Aus "Kindheitserinnerungen" von Ursula Rieffert.

Ursula Rieffert geb. Manke, 1920 geboren in SORENBOHM (Sorenbohm=Suurboom=Apfelbaum, heutiges SARBINOWO) war bis zu ihrer Pensionierung Lehrerin an unserer hiesigen Schule.
25.Dez.2013

Ein Radioapparat im Haus

Es war im Jahre 1925. Obwohl ich erst 5 Jahre alt war, erinnere ich mich gut an folgende Begebenheit: Unser Nachbar, der Gastwirt Kath, hatte die Sorenbohmer zu einem Radio-Vorführabend eingeladen. Herr Kath war nämlich seit kurzem, als erster im Ort, Besitzer eines solchen Gerätes und wollte es einem breiteren Publikum präsentieren. Auch meine Eltern, gespannt auf diese technische Neuerung, gingen hin. Am nächsten Tag sprachen sie miteinander darüber, und staunend hörten wir Kinder zu. Zuerst hätten sie nur ein Rauschen und Pfeifen gehört, doch dann sei eine Stimme aus dem Radio gekommen, fast jedes Wort habe man verstehen können. Aber es habe doch hin und wieder störende Geräusche gegeben, wandte Mutter ein, und auch der Ton sei mal stärker und mal schwächer geworden. Das seien Anfangsmängel, die sicher bald behoben würden, meinte Vater. Sie waren sich einig, dass das Radio doch eine großartige Erfindung sei.

Im nächsten Jahr gab es als Weihnachtsgeschenk für die ganze Familie einen Radioapparat. Zwei Kopfhörer waren dabei, Geräte mit eingebautem Lautsprecher gab es noch nicht. Nun durfte jeder von uns für einige Minuten einen Kopfhörer aufsetzen und lauschen. " Achtung, Achtung hier ist der Deutschlandsender Königswusterhausen!" tönte es gerade laut in meinen Ohren.

Als wir herausbekamen, dass es im Radioprogramm besondere Kindersendungen gab , meistens von 14 bis 16 Uhr, waren zwei Kopfhörer natürlich zu wenig für vier Kinder, und meine Eltern ließen sich zum Kauf von zwei weiteren Kopfhörern bewegen. So konnten wir alle an den Sing- und Bastelstunden teilnehmen, Märchen hören und Hörspiele miterleben. Auch zur eigenen Beteiligung wurden wir aufgefordert, z.B. galt es ein Hörspiel, das mittendrin abbrach, zu Ende zu schreiben. Die Leitung dieser Kinderstunden lag in verschiedenen Händen. Ich erinnere mich z.B. noch an URSULA Scherz. "Tante Ursula" genannt und Otto Wollmann; sie plauderten interessant und gaben mancherlei Anregungen.

Erst einige Jahre später, wieder zu Weihnachten, wurde ein Lautsprecher angeschafft. Das war damals noch ein riesiges trichterförmiges Gerät, wie man es vom Grammophon kannte. Nun konnte die ganze Familie zugleich in den Genuss des Radiohörens kommen. Regelmäßig wurde es u.a. bei den Nachrichten und aktuellen Berichten eingeschaltet.

So manches historisches Ereignis haben wir Kinder am Radio miterlebt und in Erinnerung behalten, so z.B. die Rede das deutschen Außenministers Stresemann vor dem Völkerbund in Genf im Zusammenhang mit der Aufnahme Deutschlands in dieses Bündnis 1929. Auch an verschiedene Ansprachen des seit 1925 amtierenden Reichspräsidenten v. Hindenburg erinnere ich mich, ebenso an eine Rede der Alterspräsidentin des Reichstages, der Kommunistin Klara Zetkin. Vater wies uns oft auf wichtige Übertragungen hin und erläuterte die Ereignisse. So ist mir noch der Jubel in Erinnerung, den der afghanische König Amanullah in Berlin auslöste, als er 1928 auf seiner Europareise unsere Reichshauptstadt besuchte. Doch schon Anfang 1929 wurde er, wie das Radio dann ausführlich berichtete, (und Vater es uns kommentierte) von seinem Volk gestürzt wegen seiner fortschrittlichen Regierungsweise.

So erlebten wir am Radio auch den jubelnden Empfang mit, der den drei Fliegern Köhl, Hünefeld und Fitzmaurice nach Ihrer Ozeanüberquerung 1928 in Berlin bereitet wurde. Wir saßen am 30. Januar 1933 gerade am Mittagstisch, als wir in den Radionachrichten hörten, dass der Reichspräsident v. Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt habe. Durch die Zeitung erfuhr man das erst später.

Mit Spannung haben wir auch die Übertragung der Gerichtsverhandlung über den Reichstagsbrand im Februar 1933 verfolgt. Der Hauptangeklagte, der Holländer van der Lubbe, der später hingerichtet wurde, schwieg auf alle Fragen. Der Angeklagte Dimitroff dagegen nahm kein Blatt vor den Mund und brachte den Zeugen Hermann Göring durch seine aggressiven, mutigen Äußerungen richtig in Wut.

Auch sportliche Ereignisse wurden uns durch lebendige Reportagen übermittelt, z.B. das Autorennen auf der Avus oder dem Nürburgring, wobei mir die Namen Hans Stuck, Caracciola und Bernd Rosemeier einfallen sowie Boxkämpfe mit Max Schmeling. Durch Musiksendungen, die wir hin und wieder hörten, wurden uns klassische Musikstücke vertraut, ebenso lernte ich durch das Radio die "Regensburger Domspatzen", den Thomanerchor und den damals berühmten Sänger Richard Tauber kennen. Eines Tages sang er aus der Operette "Friederike" von Franz Lehar das Lied "O Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich": Der reiche Applaus -es handelte sich damals um Direktübertragungen, "Aufzeichnungen" gab es noch nicht- bewog ihn, es noch einmal vorzutragen. Wieder wollte der Beifall kein Ende nehmen und wir stellten schon Vermutungen an, ob er wohl noch einmal singen würde. Und tatsächlich – er begann wieder mit seinem gefühlvollen Tenor: "O Mädchen, mein Mädchen…" Das wiederholte sich viermal. Vater und Mutter hörten sogar manchmal abends eine Opernsendung oder ein Theaterstück. Dazu gab es Texthefte im Abonnement, "Die Funkstunde" , mit deren Hilfe sie die Handlung besser verfolgen und verstehen konnten. Regelmäßig hörten sie vor allem die Nachrichten und aktuellen Berichte.

Viel Spaß hatten wir , wenn Claire Waldoff mit ihren kessen Liedern im echten Berliner Jargon (Hermann heest er..)zu hören war oder Otto Reuter mit seinen humorvollen Liedern, z.B. "Seh ich weg von dem Fleck, ist der Überzieher weg..". Viel zu lachen und zu staunen gab es auch, wenn Ludwig Manfred Lommel auf dem Programm stand mit seinen heiteren Szenen, in denen er alle Rollen selbst spielte und die verschiedenen Stimmen so treffend mimte.

Wenn Musiksendungen auf dem Programm standen, wurden in der Regel die Titel der Musikstücke vorher angesagt. Ich erinnere mich an eine regelmäßige Nachmittagssendung – es muss in den 30er Jahren gewesen sein- mit dem Titel: "Allerlei von 2 bis 3" (also von 14 bis 15 Uhr nach heutigem Sprachgebrauch) " am Flügel Herbert Jäger". Dabei wurden "am laufenden Band" Musikstücke für Orchester in bunter Folge gesendet, - doch ein "Tonband" gab es damals noch nicht, die Musik kam von Grammophonplatten. Wenn nun ein Musikstück endete, trat Herbert Jäger in Aktion, indem er an Flügel die Motive des endenden Stückes aufgriff und geschickt improvisierend zum folgernden überleitete, wobei ja Tonartwechsel, also Modulation, sowie Anpassung an Charakter und Tempo des folgenden Stückes zu berücksichtigen waren. Gewissermaßen "nahtlos" setzte nach dem Zwischenspiel wieder der Orchesterklang mit dem nächsten Stück ein. Ich habe diese Improvisationskunst damals als Schülerin sehr bewundert.

Wenn das Radioprogramm spätabends – war´s um 11 oder 12 Uhr? – endete, wurde immer zum Abschluss das Deutschlandlied, die Nationalhymne gespielt. Dann folgte jedes Mal die Mahnung: "Vergessen Sie bitte nicht, die Antenne zu erden!", woraufhin sich Vater zum Fenster begab und dort einen angebrachten Hebel umlegte.

An der Vorderseite unseres Radioapparates befanden sich zwei runde schwarze drehbare Knöpfe über einer halbkreisförmigen Skala- mit Hilfe dieser Knöpfe konnte man viele verschiedene Sender einstellen und empfangen. Allerdings hörte man hin und wieder leise im Hintergrund einen anderen Sender, was natürlich als Störung empfunden wurde. Mehrere Sender lagen auf der Skala ganz dicht nebeneinander und die Trennschärfe war noch nicht optimal. So hörten wir z.B. oft im Hintergrund die Stimme eines Ansagers: "Kopenhagen, Kalundborg .." und eine Sendung in dänischer Sprache begann.. oder wenn abends bei Sendeschluss im Deutschlandsender die Nationalhymne gespielt wurde, kam gleichzeitig –nicht zu überhören- der Sender Moskau mit seiner "Internationale". Unabsichtlich hat sich mir auf diese Weise die Melodie eingeprägt.

Im Laufe der 20er und 30er Jahre wurden die Radioempfänger fortlaufend verbessert, und so musste auch unser Gerät öfter durch ein neues ersetzt werden. Lange Zeit stand im Wohnzimmer ein vom Tischlermeister Max Dettbarn fabrizierter geschlossener Radioschrank, an dem nur ein mit Holz ausgekleidetes trichterförmiges Loch auf halber Höhe auffiel. Dahinter war, von außen unsichtbar, im Schrank ein Lautsprecher angebracht. Das Radio selbst war im oberen aufklappbaren Fach verborgen. Über die Stimme aus dem Schrank hat sich manch kleines Kind gewundert, es dachte ja, da unten säße jemand drin, und teils ängstlich, teils neugierig, öffnete es die Schranktüren. Doch da waren auf einem Bord nur allerlei Sachen untergebracht, die Anodenbatterie, der schwere Akku, der immer von Zeit zu Zeit aufgeladen werden musste, sowie Spulen, Bananenstecker und Drähte, die Vater zum Zusammenbasteln seines kleinen Radios, eines sog. Detektorgerätes, benötigte.

Das in den 20er Jahren erst wenige Haushalte ein Radio besaßen, geht aus folgender Begebenheit, -die hier am Rande erwähnt sei- hervor: Im Programm war ein Vortrag des preußischen Kultusministers Becker – er amtierte von 1925 bis 1930 – angekündigt. Seine Frau, die zu der Zeit gerade als Badegast in Sorenbohm weilte, hatte gehört dass im Lehrerhaus ein Radio existierte und freute sich, auf ihre Bitte hin die Rede ihres Mannes bei uns hören zu können. Wie meine ältere Schwester noch wusste, bedankte sich Prof. Becker nachträglich bei meinem Vater mit der Übersendung eines weihnachtlichen Singspiels von Engelbert Humperdinck, "Bübchens Weihnachtstraum", das mein Vater mit uns Schulkindern später auf Kath`s Bühne aufgeführt hat. Dieses bei Kriegsende verlorengegangene, wenig bekannte kleine Werk entdeckte ich zu meiner Freude vor einigen Jahren bei einem Besuch in der Musikbibliothek in Hamburg, wo ich eine Kopie erwerben konnte.

Die Radiosendungen, kann ich rückblickend sagen, haben mir in meiner Kindheit in den 20er Jahren die weite Welt etwas näher gebracht und vielfach den Eindruck hinterlassen, als ob ich die bedeutenden Ereignisse, die das Radio übertrug, unmittelbar miterlebt hätte. Auch der "Kinderfunk" war interessant und bot vielerlei Anregungen.

Nach 1933 wurde der Rundfunk zunehmend in den Dienst der Propaganda gestellt. So wurde z.B. an politischen Feiertagen und bei bedeutsamen Ereignissen für die Schulen Gemeinschaftsempfang angeordnet, wobei – von Marschmusik und HJ-Liedern umrahmt – oft lange Reden gehalten wurden.

Ich selbst hatte ab 1934 -als Schülerin im Internat und später während des Studiums- kaum Gelegenheit Radio zu hören, außer in den Ferien, wenn ich in meinem Elternhaus weilte. Am wichtigsten waren ab 1939 die neuesten Kriegsberichte und Sondermeldungen. Auch in den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren war an ein eigenes Radio nicht zu denken. Erst Anfang der 60er Jahre war ich im Besitz eines Radios oder genauer: einer "Musiktruhe" mit integriertem Plattenspieler und Platz für Langspielplatten.

Heute gibt es längst auch für wenig Geld praktische kleine Radiogeräte, die ich als tägliche Informationsquelle und darüber hinaus schätze und nutze. Gegenüber dem Fernsehen hat das Radiohören jedenfalls einen Vorteil: Man kann sich gleichzeitig noch mit einer Handarbeit oder mit Hausarbeit sinnvoll beschäftigen und so Zeit sparen!

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ursula Rieffert , Stelle den 23. Juni 2012